Sobald du deinen Fernseher einschaltest, bist du in Gefahr. Wie beim Geruch von Schimmelsporen einer verseuchten Wohnung bemerkst du vielleicht nicht, dass dein Gehirn kontaminiert wird.
Der Emojournalismus greift an. Tom Schimmeck umreißt in seinem lesenwerten Buch Am besten nichts Neues im Kapitel Gefühlsecht dieses Phänomen. Im “klassischen” Journalismus sollen die Nachrichten die Fragen Wer-Was-Wann-Wo-Warum möglichst im ersten Satz beantworten. Der Emojournalismus zielt aber darauf ab, Rezipienten ein “Gefühlserlebnis” zu vermitteln und diese zu unterhalten.
Ausgerechnet in Sol Steins Buch Über das Schreiben, das sich dem fiktionalen und nichtfiktionalen Schreiben gleichermaßen widmet (Exerpt hier), finden sich zahlreiche Beispiele, wie man Nachrichten anreichern und spannend machen soll.
Die lapidare Begründung Steins für das emotionale Aufblähen von Fakten ist, dass der Mensch im 20.en Jahrhundert sich geändert habe durch die von Film und Fernsehen geprägten Rezeptionsgewohnheiten.
Dieser Ansatz ist fehlerhaft und gefährlich:
- Diskursfähigkeit: Bei journalistischen Nachrichten geht es darum, Inhalte zu vermitteln. Auf Grundlage der Fakten beginnen wir, diese zu reflektieren und die Fakten einzuordnen. Nur auf Grundlage von Fakten kann ein sinnvoller Diskurs geführt werden. Die Methodiken des Creative Writing zielen bewusst darauf ab, den Leser zum Lesekonsumenten zu machen, der nicht aus dem Lesefluss gerissen wird. Unverhohlen wird dabei auf die Kaufentscheidung des Lesers in der Buchhandlung abgezielt, der möglichst nach dem Lesen des ersten Satzes das Buch so spannend findet, dass er es sofort weiterlesen möchte.
Mit diesen Methodiken bläht man aber Inhalte auf und verbirgt und “streckt” Fakten, während man die Leser mit spannenden Erzähltechniken bei der Stange hält.
Wer dieses Prinzip auf journalistische Nachrichten überträgt, verschleiert oder verdrängt Fakten. Aus dem Infodump im Diskurs – um im Jargon zu bleiben – würde ein “Emodump”. D.h., anstelle beim Diskurs mit Fakten zu argumentieren, blieben lediglich Emotionen. Damit wäre jeder politische Diskurs ad absurdum geführt, da die politisch relevanten Inhalte fehlten. - Mangelnde Differenzierung der journalistischen Darstellungsform: Stein vermengt die journalistischen Darstellungsformen. Für eine Dokumentation kann es durchaus nützlich sein, die Rezipienten in die Sichtweise Betroffener etc. zu versetzen, um dadurch z.B. Mitgefühl hervorzurufen. Ebenso wird ein Leitartikel die Leserschaft mit einer geschickten Einleitung fesseln. Hinsichtlich der Tatsachenvermittlung ist das aber unangebracht. Nicht verwunderlich ist deshalb, dass die meisten journalistischen Nachrichten-Beispiele Steins aus der Rubrik “Panorama/Vermischtes” stammen oder aber Nachrichten plötzlich zu Berichte/Reportagen umwandeln.
- Erzeugen von (Massen-)Hysterie: Wer Menschenmengen überemotionalisiert, erzeugt Massenhysterie. Auch als Deutsche im 21.en Jahrhundert dürften wir nicht gänzlich vergessen haben, welche Auswirkungen dies haben kann. (Michael Moore zeigt in Bowling for Columbine zeitgemäße Implikationen auf.).
- Entfernen und Umschreiben relevanter Informationen: In 1.) angedeutet: Je mehr Zeit (TV/Radio) und Platz (Printmedien, Internet) der Darstellung von Emotionen gewährt wird, desto weniger Fakten können präsentiert werden. Je weniger Fakten dargestellt werden, desto weniger Fakten können erinnert werden. Je weniger Fakten erinnert werden, desto einfacher ist es, Fakten “kreativ umzudeuten”. Ein schönes Beispiel ist die bei einem Attentat getötete Benazir Bhutto, der zusammen mit ihrem inhaftierten Ehemann gemeinschädliche Korruption nachgewiesen wurde, die aber 2007 zu einer “Lady Di” der Demokratie in allen westlichen Medien bis hin zur Guardian oder taz stilisiert wurde. Hier wurden die Korruptionsvorwürfe – vor dem Attentat (danach scheint das de mortuis nil nisi bene immer noch zu funktionieren) – nirgends recherchiert/erwähnt. 1984.
- Falsches Ziel: Sol Stein und viele Creative-Writing-Ratgeber behaupten, Ziel der guten Erzählung sei, Gefühle zu vermitteln. Das ist falsch und würde die Prinzipien des Spektakelkinos auf das Erzählen übertragen. Der eigentliche Wert der Literatur, das, was sie vom Film abgrenzt, ist, dass sie nicht nur Gefühle, sondern Erfahrungen vermitteln kann. Schwanitz beschreibt dies sehr eindrücklich.
PS: Ich habe den Fernseher abgeschafft. Und hoffe immer noch auf eine Tagesszeitung, die es zu abonnieren lohnt.
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