Der Vorschlag des für mich eher zwielichtig wahrgenommenen James Altucher, man solle täglich zehn Ideen zu einer vorgegebenen Fragestellung entwickeln und so – unter anderem – seinen “Ideenmuskel” (idea muscle) trainieren, hat mir seinerzeit gut gefallen und mich in meiner eigenen Praxis bestätigt.
Wobei ich es vorher meist bei vier, fünf Ideen beließ und mit Altuchers Übung erfuhr, wie wirklich anstrengend es ist, die letzten zwei bis drei Ideen von zehn zu entwickeln. Den Ideenmuskel zu trainieren hilft mir, in Situationen der zeitlichen Bedrängnis schneller brauchbare Lösungen zu entwickeln, Alternativen zu erkennen, die ich sonst nicht gesehen hätte und mich – subjektiver Eindruck – länger auch mit unliebsamen Themen zu befassen.
Ich frage mich zugleich, ob nicht auch ein Stressmuskel vorhanden sei. Macht es vielleicht Sinn, sich bewusst extremem Stress auszusetzen, um so für eine gestresste Zukunft gewappnet zu sein?
Diese Einleitung ist allerdings nur ein – ausgezeichneter – Vorwand, die Abfolge von grotesken Situationen zu beschreiben, die uns als Familie in der Weihnachtszeit 2015 widerfuhr:
EXKURS: START
Ende November 2015: Ehefrau Cornelia und ich sind dabei, ein neues Heim/Haus zu erwerben. Wir brauchen dringend Platz für unsere bis zu siebenköpfige Familie (unsere 3 Kinder und 2 Kinder von mir, aus früherer Beziehung): die 4 Zimmer auf ca. 110 qm2 reichen nicht, um Privatsphäre zu bieten, jedes Wort, jeder kleiner Kinderzwist wird von uns Eltern wahrgenommen, jeder Elternzwist von den Kindern.
Wir hatten Glück und konnten dank freundlicher Vermittlung ein Angebot für ein schönes, sehr großzügiges Haus bei einer geduldigen Privatverkäuferin abgeben. In diesem Haus wäre Freiraum für jedes Familienmitglied und sogar noch meine Mutter.
Für die Finanzierung benötigen wir den Erlös aus dem Verkauf des alten Hauses. Dieses als Abrissgrundstück zu kaufen, sagte uns ein uns als absolut zuverlässig bekanntes Freundespaar aus der Nachbarschaft zu.
Ich habe – als sich der firmeninterne Abschluss eines wundervollen Projekts abzeichnet – meinem Arbeitgeber gekündigt, um zu Red Hat, einem langjährigen Sehnsuchtsunternehmen (neben GitHub, ThoughtWorks, Apple [sic]), zu wechseln. Beginn soll der 01.02.2016 sein (also vor Ablauf der Kündigungsfrist) – sofern die Projektübergabe reibungslos erfolgt (und ich dazu meinen Teil beigetragen habe).
07.12.2015: Der Freund teilt kurzfristig mit, doch nicht das Grundstück erwerben zu wollen.
(Klingt das jetzt ein wenig stressig? 🙂
Cornelia reagiert, stellt sofort ein privates Verkaufsangebot bei Immobilienscout24 ein (von mir noch ein wenig aufgebessert) und nimmt in den nächsten Abenden etwa siebzig Anrufe entgegen und unzählige E-Mails, darunter solche von Immobilienmaklern, die möglicherweise fachlich bewandert sind, aber nicht sprachlich (Perlen: “Sagen Sie Straße!”, “Antworten Sie mir gefälligst!”, “Wo befindet sich das Grundstück?” – jeweils ohne Anrede oder weitere Informationen. Cornelia sucht die privaten Interessenten heraus, deren Anschreiben ihr vernünftig erscheinen.).
Eine größere Tochter hat gesundheitliche Probleme, die auf den ersten Eindruck besorgniserregend sind und Absprachen mit der Schule erfordern. Kurzum: Die Lage ist angespannt und bietet ein ideales Klima, gestresst zu sein.
08.-10.12.2015: Gleichzeitig hat die Hour of Code begonnen, eine Woche im Dezember, bei der überall auf der Welt Menschen spielerisch erfahren können, wie es ist, zu programmieren. Hier war ich für die 2.e Klasse meines Sohns eingebunden und kümmerte mich um Vorbereitung und Begleitung zur Umsetzung im dEIn Labor an der TU-Berlin, wo wir großartig von Dr. Claudia Ermel und ihren Mitarbeiterinnen betreut wurden. Für die Vorbereitungen ist Nachtarbeit angesagt.
Die besinnlichen Adventswochenenden sind geprägt von Führungen durchs Haus (insgesamt 12 Parteien).
Dann finden die Weihnachtsvorspiele der musizierenden Kinder statt: Von einer Generalprobe ins – erste – Vorspiel der zweitjüngsten Tochter schaffe ich es noch gerade so.
11.12.2015: Paukenschlag I: Mein Vorgesetzter überrascht mich mit der Äußerung , er könne noch nicht fest zusagen, mich vorzeitig gehen zu lassen, selbst wenn ich meinen Teil unseres Gentleman Agreements einhielte (was mich wenig erfreut und zu schneller Eskalation zwingt).
17.12.2015: Paukenschlag II: Plötzlich stellen Unklarheiten die Finanzierung des Hauses in Frage.
Es kommt noch besser: Wir haben bereits einige erfreuliche Angebote für das alte Haus, da melden sich die – liebenswerten – Mieter des neuen Hauses und bekunden ihr Interesse am alten. Also schieben wir eine verbindliche Zusage hinaus, da uns die Variante, im fliegenden Wechsel die Häuser zu “tauschen” sehr behagte. Die Unsicherheit steigt…
18.12.2015: Konzert des Sohns (Nachwuchschor des Kinderchors der Staatsoper Berlin) im Flüchtlingslager im Flughafen Tempelhof (mit Kindern aus dem Flüchtlingslager) ist schön, zerrt organisatorisch und emotional aber dennoch an den Nerven.
21.12.2015: Ein Arzttermin am späten Nachmittag für eine größere Tochter steht an, die Mieter haben ihr Interesse bekundet und möchten am kommenden Tag – bevor wir zu meinem Vater in die Weihnachtsferien fahren wollen – noch eine Besichtigung mit Bausachverständigen machen.
Wegen des Arzttermins habe ich eine Fahrt für meinen Sohn + zwei andere Kinder aus der Gegend (Fahrgemeinschaft) bereits an meine Mutter delegiert, damit die Ehefrau zum Weihnachtsvorspiel der mittleren Tochter gehen kann.
Amboßschlag: Unsere jüngste Tochter hat eine Lungenentzündung und muss ins Krankenhaus.
(Jetzt gestresst? :)))
Cornelia bleibt mit der jüngsten Tochter im Krankenhaus, die zweitjüngste wird ihren Auftritt beim Weihnachtsvorspiel ohne Zuschauer aus der Familie haben (wird dabei sogar versehentlich übergangen und fordert selbständig ihren Auftritt ein, was dazu führt, dass das gesamte Vorspiel ihretwegen dankenswerterweise noch einmal wiederholt wird – welch wunderbare Lehrer den Kindern beschert sind, die die Hour of Code mitmachen oder Weihnachtsvorspiele wiederholen.).
Meine Programmierfingerübungen (mehr als laissez-faire angelehnt an Dave Thomas CodeKatas) auf GitHub möchte ich dennoch nicht aufgeben, was mich zwingt, mir immer noch wenigstens eine Viertelstunde in der Nacht abzuringen.
Ich übernehme am kommenden Tag im Krankenhaus, wir treffen jetzt Entscheidungen wie in Trance: Getrennte Weihnachten, ich kümmere mich am 23.12. vormittags um die Besichtigung mit den Bausachverständigen und fahre danach sofort mit einem Teil der Kinder allein zu meinem Vater. Cornelia feiert mit der Kleinsten in Berlin und fährt zu ihren Eltern.
EXKURS: ENDE
Auch wenn ich deutlich angespanntere Phasen in Projekten erlebt habe (mit viel mehr zu bewältigenden Detailfragen und viel schlechteren Überraschungsmeldungen): Das hier war für uns alles existenziell bedeutend und dadurch emotional wesentlich belastender als die verworrensten Projektsituationen mit vielen Projektpartnern, auf deren Bedürfnisse einzugehen war.
Ich frage mich deshalb, ob die fröhliche Äußerung, man wachse mit den Anforderungen zutrifft, ob man sich nicht sogar bewusst größerem Stress aussetzen, seinen “Stressmuskel” traininieren sollte, um in deutlich schlimmeren Situationen klar und gelassen agieren zu können.
Eine dunkle Ahnung sagt mir, dass da draußen Menschen sind, die – erzählte ich ihnen vom Ablauf der Wochen vor Weihnachten – mich ganz verwundert anschauten, meinend, das klinge aber nach einer entspannten, ruhigen Zeit, dieses Programm widerführe ihnen geballt jeden Tag.
Fragt sich nur noch, wie man den Stressmuskel traininieren sollte.
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